Lena allein in Khudjand

Meine Gastschwester war offiziell krank und ich bin alleine in Richtung Schule aufgebrochen. Die gelbe Marschrutka ist zum Glück auch nicht zu übersehen und ich bin gut in der Schule angekommen. In der ersten Stunde habe ich mich ein einer fünften Klasse vorgestellt, weil die mich noch nicht kannten. Ich scheine echt den Überblick verloren zu haben bei dem ganzen Chaos. Letztendlich kennt aber trotzdem jeder meinen Namen, so auch die nette Dame in der Mensa, die immer nur „Lenitschka“ sagt und sich freut. Die ist echt so lieb! In der zweiten Stunde male ich Plakate für das Sportfest, was nächsten Samstag stattfinden soll und in der dritten Stunde schauen wir uns den Deutschunterricht in der vierten Klasse an. Und die hat mich stark an die Stunden damals in der Schule erinnert, bei denen wir mit Süßigkeiten bestochen wurden, weil die Referendare ihre eigenen Prüfungen ablegen mussten. Die 45-minütige Deutschstunde enthielt alles: Lieder, etwas an die Tafel schreiben, Magneten an der Tafel, Hörverstehen, Gruppenarbeit, Theaterstück, Fragen aus dem Buch beantworten, noch ein Lied, Hausaufgaben abfragen, neue Hausaufgaben geben und ganz viel ähm ja genau ja ähm. Da scheint jemand mit Peter Zwegat von „Raus aus den Schulden“ Deutsch gelernt zu haben. Ich fand die Stunde eigentlich ganz ok, auch wenn sie offensichtlich schon mal geübt wurde. Dann begann aber die große Diskussion auf Russisch. Normalerweise reden sie Tadschikisch, wenn es locker zugeht. Und ich konnte so gar nicht einordnen, ob es jetzt gut war oder nicht.

Nach dem Essen hatte ich dann meine Olympiadenkinder wieder und hab mit ihnen geredet und mündliche Kommunikation geübt. Die sind in der achten Klasse und manchmal noch zu naiv und eben auch zu jung, um so richtig über manche Themen diskutieren und viele Beispiele finden zu können. Oder vielleicht auch zu müde. Schule schlaucht doch ganz schön. Ich bleibe also heute auch länger als gewöhnlich, weil ich nicht auf die Schulmarschrutka angewiesen bin. Nach Unterrichtsschluss bleiben immer noch einige Schüler und Schülerinnen in der Schule, um weiter zu lernen. Und die Lehrerinnen bleiben auch oft bis abends. Das ist wirklich ein unglaublicher Einsatz! Im Laufe des Nachmittags kam auch noch eine ehemalige Schülerin vorbei, die jetzt in Osnabrück studiert und in den Semesterferien jetzt wieder hier ist. Mit ihr hab ich mich dann am Freitag auch getroffen, um ein bisschen Englisch zu lernen, weil sie das jetzt für die Uni braucht.

Nachdem ich dann das Schulgebäude verlassen hatte, bin ich mit der deutsche Deutschlehrerin, die immer nur Frau ... genannt wird (alle anderen Lehrerinnen werden immer beim Vor- und Nachnamen genannt, und das in einer Geschwindigkeit, dass ich nur erahnen kann, wen sie meinen), in die „City“ gefahren, um Geld zu holen. Ich hatte die ganze Zeit ja nur meine 10€ aus Deutschland. Der Taxifahrer dorthin spricht irgendwie nicht, ich bin aber ganz froh, dass er uns trotzdem sicher ans Ziel bringt. Aus Sicherheitsgründen hab ich mich trotzdem angeschnallt. Wir müssen so oder so Europäerpreise zahlen. Nach dem Besuch in der Bank trennen sich unsere Wege und ich gehe weiter zu Li-Ning, um Madina ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen. Ich suche eine Ewigkeit herum und finde dann eine schöne Sportjacke, auf der wie auf allen Artikeln drei verschiedene Preise stehen. Der günstigste mit VIP-Karte. Während des Suchens war ich ganz froh, dass mich niemand aufdringlich auf Russisch seine Hilfe angeboten hat. Jetzt musste ich ja aber an die Kasse und irgendwie verständlich machen, dass ich gerne eine VIP-Karte hätte. Es kamen eine Verkäuferin und ein Verkäufer auf einmal und man stellte mir so eine Karte aus. Da musste ich auch den Namen meines Vaters angeben, sehr merkwürdig. Sonst aber kaum Daten (das wär was für dich, Huli!) und meine tadschikische Handynummer hab ich je eh bald nicht mehr. Dass ich die Nummer und keine Postadresse angeben muss, wird mir dann klar als ich am nächsten Tag eine SMS von dem Verkäufer bekomme. Wäre jetzt in Deutschland auch eher gar nicht legal, so an irgendwelche Nummern zu kommen.

Anschließend gehe ich zu Megafon und versuche einen Internetstick zu kaufen, aber ich kann ja kein Russisch. Und die Leute dort können kein Englisch, sind aber genauso hilfsbereit wie in fast allen Läden hier. Ein Mann erklärt mir die Preise für 500MB, 1GB usw. und dass es immer nach einem Monat verfällt, man aber wieder mehr Volumen draufladen kann. Seine Ausführungen veranschaulicht er mit dem Zeigen auf ein Schild mit einer Liste alle Preise. Plötzlich ruft mich Nora, die andere Deutsche an und fast zeitgleich drückt man mir ein Handy in die Hand. Eins nach dem anderen. Am fremden Handy erklärt mir eine Frau auf Englisch die Preise für 500MB, 1GB usw. und dass es immer nach einem Monat verfällt, man aber wieder mehr Volumen draufladen kann. Gut, Zahlen kann ich schon lesen, aber danke. Ich entscheide mich für irgendwas und man drückt mir das Handy wieder in die Hand. Jetzt fragt die Frau, ob ich ihr Englischunterricht geben kann, ich sage ihr aber, dass ich leider keine Zeit habe. Vor sowas wird man immer gewarnt. Wär ja cool für die Leute, ihr Englisch gebrauchen zu können, aber ich hab auch nicht 24/7 Bock auf sowas. Man muss halt lernen, auch nein zu sagen. Denn ja ist hier verbindlich. Sie vergessen nie.

Letztendlich klappt es doch nicht bei Megafon und sie schickt mich weiter zu Tcell, weil meine Handykarte von Tcell ist. Der Laden sieht sehr westlich aus, die Dame spricht Englisch und ich muss erst mal 13 oder 30 Minuten warten. Ich komme dann recht schnell dran, aber sie erklärt mir, dass es im Moment keine Internetsticks gibt, what? Die nennen die hier übrigens Modem. Ich verlasse also den warmen Laden (es war echt kalt draußen!) und gehe in den Supermarkt. Anschließend treffe ich Nora und ihren weißrussisch-tadschikischen Russischlehrer im Restaurant, wo dann später noch ein Inder zu uns stößt. Das ist die Expat-Gruppe in Khudjand. Also die, die „Ausländer“-Gruppe (die, die nicht in ihrem Vaterland sind; ex patria). Wir essen Lipioschka, das tadschikische Brot, und trinken Tee und Tee und Tee. Der mit Sicherheit noch nicht volljährige und vielleicht nicht mal strafmündige Kellner bringt auch immer fleißig neue Kännchen. Irgendwann schau ich auf mein Handy und habe 14 verpasste Anrufe meiner Gastfamilie und einer Deutschlehrerin. Hupsi! Meine Nachricht, dass ich später nach Hause komme, hat wohl keiner gelesen und sie haben sich Sorgen gemacht. Dabei war es nicht mal dunkel draußen. So ein bisschen steht man da zwischen den Kulturen. Auch wenn die Leute hier sonst so gechillt sind, sind sie es bei sowas plötzlich nicht mehr. Da sind die Deutschen dann eher entspannter und warten ab. Vielleicht aber auch nur die Studierenden, Helikoptereltern sind da bekanntlich anders. Ich bin mittlerweile echt sehr an die Unabhängigkeit gewöhnt, aber muss mir auch irgendwo eingestehen, dass ich ein „Kind“ in der Gastfamilie bin. Auf jeden Fall rufe ich zurück und erkläre, dass ich nicht entführt wurde. Irgendwann beenden wir den lustigen dreisprachigen Abend, bei dem aber niemand alle drei Sprachen spricht, und ich nehme die Marschrutka nach Hause. So geil ist es dann doch nicht, die paar Minuten im Dunkeln bis zum Haus zu laufen und im Treppenhaus redet jemand Russisch mit mir und fragt, in welcher Wohnung ich wohne. Äh ok. Aber ich konnte ja schlecht lügen, weil man eh sieht, in welche Wohnung ich gehe. Gut, dass ich nicht alleine wohne. Den Abend lassen wir dann wiederum mit Tee ausklingen und ich falle todmüde wie immer ins Bett. Freitag ist wieder ganz normal Schule und nachmittags gehe ich zu Nodira Englisch lehren. Vorher bin ich noch kurz bei der Deutschlehrerin und stelle fest, dass die „Haustür“ zu tadschikischen Häusern immer nur ein Tor in den Innenhof ist. Und von dort aus gibt es dann mehrere Türen in mehrere Häuser, die nicht miteinander verbunden sind. Trotzdem zählt der Innenhof quasi als Flur mit zum Haus, was im Sommer auch echt schön ist. Jetzt ist es halt kalt. Ich latsche erst mal mit Schuhen in die Küche, oder halt ins kulturelle Fettnäpfchen, denn Schuhe werden im Haus wohl nicht getragen. Aber wenn’s doch so kalt ist! Das ist auch ein bisschen der Stil, in dem Frau ... über die tadschikische Kultur lernt, nur über Vermutungen, aber das scheint seit Jahren zu klappen. Wenn irgendwas ganz schlimm „falsch“ ist, wird das schon jemand sagen.

Zum Abendessen bin ich wieder zu Hause, Samstag gibt’s Tort Napoleon zum Frühstück und es ist Schule. Heute ist Sportfest der Lehrkräfte. Die Ladies machen Armdrücken und ich verliere drei von vier Partien, die andere war unentschieden. Armdrücken ist wohl voll der Nationalsport hier. Danach spielen wir vier Sätze Volleyball oder auch „so lange Aufgaben machen, bis die Aufgabe misslingt“. Ab und zu ist es doch zum Spiel gekommen und die ganze Schule hat geschrien und angefeuert. Die ganze Schule, außer Klasse 9 und 10, denn die mussten eine Probeklausur schreiben. Das Geschreie haben sie trotzdem gehört und prompt in ihren Brief an die Schülerzeitung zum Thema „Sport“ eingebaut. Nach Abgabe haben wir die Aufsätze durchgelesen und herrlich gelacht. Irgendwie ein bisschen unfair den Schülerinnen und Schülern gegenüber, aber teilweise ist der Ausdruck so lustig, sind die Wörter so falsch ausgewählt und die Ideen so verrückt oder naiv, da kann man gar nicht anders. Ich kann es nachvollziehen, dass es so viele Bücher über lustige Schülerzitate gibt. Aber nein, so ein Buch möchte ich nicht schreiben.

Eben (abends) waren wir noch Essen mit der Familie (also auch mit der lauten Tante) und es wurde viel Wodka getrunken. Aber immer noch zu wenig, um aufs Autofahren zu verzichten. Jetzt bin ich sehr müde und werde schlafen. Ich freue mich, dass morgen mein heiliges Wochenende und mein einziger Tag zum Ausschlafen ist.

Euch ein schönes zweitägiges Wochenende und eine schöne fünftägige Woche,

 

Lena