Halbzeit

Verrückt, wie die Zeit vergeht!

Der Schulalltag ist nicht sonderlich spektakulär, aber doch jeden Tag spannend und es geht immer tiefer in die tadschikische Kultur. Seit der andere Freiwillige da ist, habe ich gemerkt, dass ich mich in ganz vielen Dingen schon angepasst habe. Schulklingel, Stundenplan, Pünktlichkeit – alles nur Auslegungssache. Ist bestimmt nicht die beste Idee, in Deutschland so weiterzumachen, aber die tadschikische Gelassenheit möchte ich trotzdem gerne mitnehmen. Man ist immer auf alles gefasst und niemanden schockt es, wenn der Strom ausfällt, jemand einfach auf die Straße läuft (heute ist eine Marschrutka gegen einen Mann gefahren, damit er aus dem Weg geht), man zu wenige Klausurexemplare zugeschickt bekommen hat, eine spontane Schulversammlung draußen einberufen wird bei gefühlten -1°C oder wenn man spontan einen ganzen Tag lang Vertretungsunterricht macht. Okay, letzteres habe ich nicht ganz so gelassen hingenommen, aber spontan hat das auch alles super geklappt und die Schüler hatten Spaß, und haben Deutsch gesprochen, das ist die Hauptsache, finde ich. Es war aber auch ein unglaublich lauter Tag. In der fünften Klasse war ich zum ersten Mal und ich wurde mit Fragen bombardiert. Dank ihrer mangelnden Deutschkenntnisse wurde die Frage nach dem Namen meines Vaters auch bestimmt sieben Mal gestellt, weil sie einander nicht verstehen oder alle so laut schreien, dass sie die anderen nicht hören. Irgendwann haben sie dann auch die deutsche Nationalhymne angestimmt, sind aber wenigstens währenddessen sitzen geblieben. Die haben alle große Schwierigkeiten, auf ihren Plätzen zu bleiben und es ist immer ein ewiges Hin und Her. Aber sie machen ihre Aufgaben, hören zu, schreiben in ihr Heft und melden sich alle bei jeder Frage mit „Darf iiich?“. Die könnten glatt mal die Hälfte ihrer Motivation und Disziplin nach Deutschland schicken! Klar bin ich hier auch an einer Eliteschule und die Schüler wissen, wie wichtig die Noten sind, um ein Mal in Deutschland oder Russland studieren zu können. Übrigens enorm, wie viele nicht hier bleiben wollen. Und gleichzeitig singen sie alle lautstark ihre Nationalhymne mit und salutieren. Aber sowas wie Nationalstolz ist für mich wirklich sehr schwer nachzuvollziehen. Genauso wie der Wert, der hier auf Handys gelegt wird. Das ist ja wohl das Prestige-Ding Nummer eins! Am 8.3., dem internationalen Frauentag, der hier ein Feiertag ist, sind wir bowlen gegangen und die Zeit im amerikanisch-aussehenden Bowlingcenter wurde dazu genutzt, sich und die anderen in mindestens 17 verschiedenen Perspektiven auf allen Hockern und Stühlen mit einem iPhone am Ohr, wichtig in die Entfernung schauend, zu fotografieren. Der Weg nach draußen war dann auch entsprechend lang. Das war wie mit kleinen Kindern, die die Zeit möglichst lange hinauszögern wollen und plötzlich jeden Stein und jedes Blatt interessant finden und anhalten. Anschließend sind wir auch noch mit dem Lagerverwalter (so wurde er mir vorgestellt) der Tante Eis essen gefahren und der Typ hat Sicherheitsgurte im Auto. Ich hab also die Chance genutzt und mich angeschnallt, die kleinen Freuden des Alltags. Mich überraschen mittlerweile auch Bilder aus Deutschland dahingehend, dass die Straßen so glatt und gerade sind und es keine Schlaglöcher in mehreren Dimensionen gibt. Hier hat auch jede Marschrutka-Windschutzscheibe einen Steinschlagschaden-Riss. Ironisch irgendwie, wenn die Marschrutka mit „Der Glaser kommt“ bedruckt ist. Ich habe auch schon „Rosenkranz – Dienstleistungen und Service“ und diverse Privatwagen mit deutschen Namensaufklebern am Heck gesehen. Ich frage mich, ob die ehemaligen (oder eigentlichen) Besitzer um das Schicksal ihrer Autos wissen.

 

Man kann sich Tadschikistan also folgendermaßen vorstellen: braun-graue Berge in der Entfernung, graue Häuser mit buntgefliesten Balkons, graue, breite Straßen mit etlichen Schlaglöchern, viele Autos und ein paar telefonierende Fußgänger zwischendrin, bunte Kleidung, aber alles unter einer dünnen braunen Staubschicht, niedrige Häuser, viele Geschäfte und Schaschlikgrills auf dem Fußweg, viel orientalische Musik und Marschrutkakassierer, die aus den Türen schreien, wo sie hinwollen. Es ist also immer laut. Zwischendrin hupt ein Auto, oder es zwitschert ein Vogel, denn hier hat sogar jeder Supermarkt seinen eigenen Vogelkäfig.

 

Wisst ihr eigentlich, woher das Uran für den Bau der ersten sowjetischen Atombombe herkam. Genau, aus Tadschikistan. Genauer gesagt aus Tschkalowsk, einer Stadt südöstlich von Chudschand. Da ist die Radioaktivität auch gleich ein bisschen höher, also zu hoch, denn in ganz Zentralasien strahlt es ordentlich durch die Gegend, weil die ehemaligen Atomkraftwerke nicht ordentlich gesichert sind. Da dort natürlich auch niemand arbeitet, ist die Stadt, in die mich am Sonntag ein Schüler eingeladen hat, ein verlassenes Trauerspiel. Natürlich sehr interessant, es wohnen ja auch noch einige Leute dort. Viele ehemalige Diskotheken (eine Disko ist hier entweder ein Club oder ein Bordell) sind geschlossen, in den Parks gibt es keine Bänke mehr, viele Gebäude stehen leer und den Sportkomplex darf man auch nicht mehr betreten. Das Highlight des Tages war aber eine Wanderung zu einem Canyon. Das war wirklich ein „Grand-Canyon“-Moment und wir sind runter geklettert. Nein, Mama, war nicht gefährlich.  Dann mussten wir einen Fluss überqueren, haben uns ein richtig altes verlassenes Dorf angesehen, das aufgrund der nur noch erhaltenen Kellerräume an Machu Picchu erinnerte, um dann auf der anderen Seite wieder hochzuklettern. Dieser Ausflug in die Natur war richtig schön und genau das, was man nach zwei Wochen in einer lauten, staubigen Stadt braucht.

Gestern bin ich dann mit der Marschrutka auf der anderen Seite aus der Stadt rausgefahren. Vorher bin ich noch mit der anderen deutschen Deutschlehrerin Schaschlik essen gegangen und dann hat sie mir die Strecke gezeigt. Wir zwei sind auch schon ein komisches Gespann, optisch total auffällig und mit mangelnden Sprachkenntnissen, aber immer eine erfolgreiche Kommunikation. Da irgendwo außerhalb von Chudschand sind wir dann ausgestiegen und konnten in der Ferne die Berge und in der Nähe die riesigen Aprikosenplantagen sehen, die sicher bald blühen werden. Die richtig hohen Berge hab ich leider echt lange nicht mehr gesehen, aber falls sie sich hinter der Staub-, Smog- und Nebelwolke nochmal hervor trauen, werde ich ein Foto machen.

 

Bis dahin, oder bis vorher,

 

Lena

Kommentar schreiben

Kommentare: 0